Das glühend heiße Death Valley, die Eisseen in Lappland oder die Nordschleife des Nürburgrings: Wenn Autohersteller ihre Prototypen präsentieren, wählen sie dafür meist exotisches Terrain. Dies erst recht bei einem Auto wie der S-Klasse, ist die Luxuslimousine doch das technologische Aushängeschild von Mercedes.
Doch Chefingenieur Jürgen Weissinger empfängt mit seinem in Tarnfolie gehüllten Prototypen in einem Parkhaus am Sindelfinger Werksgelände. Eng ist es dort, düster und verwinkelt. In einem solchen Umfeld tut sich eine 5,15-Meter Limousine sonst schwer, doch für den großen Benz soll das nicht mehr gelten.
Weissinger kurvt durch die Auffahrten, als säße er in einer A-Klasse. Mit einer Hand am Lenkrad schneidet er die Kurven, schießt über die Rampen und zirkelt in engen Radien durch die wenigen Lücken in den langen Parkreihen – und grinst bis zu den Ohren.
Möglich macht den Schlingerkurs die neue Allradlenkung. Sie ist ein Highlight der Luxuslimousine, entwickelt unter dem internen Code W 223. Nächste Woche feiert sie Weltpremiere und soll ab dem Jahreswechsel Mercedes' Spitzenposition im Oberklassesegment gegen Audi A8 und BMW Siebener verteidigen.
Bediensystem liest Insassen Wünsche von den Augen ab
Die Allradlenkung gibt’s bei der Konkurrenz zwar schon länger. Doch während die Hinterräder dort zwei, manchmal drei Grad einschlagen, sind es bei Mercedes bis zu zehn Grad. Entsprechend groß ist der Effekt: Der Wendekreis schrumpft um bis zu zwei Meter.
Ein sehr großes Auto sehr handlich zu machen, etwas Komplexes ganz einfach zu gestalten – dieses Motiv zieht sich durch alle Bereiche der neuen S-Klasse. "Wir haben uns nicht gefragt, was das Auto können soll, sondern was sich der Fahrer von ihm wünschen könnte", umschreibt der Chefingenieur den nach seinen Worten neuen Entwicklungsansatz.
Der findet sich auch im Bediensystem wieder. Es umgarnt alle Insassen mit neuen Bildschirmen, spektakulären 3D-Grafiken, 30 Schaltern und Tastern weniger als zuvor, verbesserter Sprachsteuerung und einem riesigen Head-up-Display mit Augmented-Reality-Projektionen. Vor allem überrascht das System mit so etwas wie vorausschauendem Gehorsam: Es deutet Blicke und Bewegungen von Fahrer oder Passagieren und aktiviert gegebenenfalls Beleuchtung oder Belüftung. Ähnlich eigenständig flammt die LED-Landschaft im Innenraum rot auf, sobald sich dem stehenden Auto von hinten ein Radfahrer nähert, der Fahrer aber schon zum Türgriff greift.
Bis zu 16 Airbags
Eher nebenbei haben die Schwaben in klassischen Disziplinen nachgelegt: Die S-Klasse ist innen noch deutlich leiser geworden, wegen ausgeschäumter Hohlräume und meterlanger Dichtgummis. Dank optimierter Federung schwebt es sich noch komfortabler, sodass jeder in der Kabine dieser Welt noch ein Stück weiter entrückt.
Und sie bietet mehr Platz, weil sie weiter gewachsen ist. Die "Kurz"-Version für Europa kommt auf 3,10 Meter Radstand, die Langversion für den Rest der Welt auf 3,20 (bei einer Länge von 5,25 Meter). Zudem wirkt die S-Klasse noch geräumiger, dank schlanker, gleichwohl extrem bequemer Sitze. Selbst mit knapp zwei Meter Körperlänge kann man im Fond die Beine übereinanderschlagen.
In Sachen Sicherheit gibt die S-Klasse wieder die Richtung bei Mercedes vor. Ein paar Extras soll es später auch in anderen Baureihen geben: So gibt es bis zu 16 Airbags, darunter der erste Frontairbag für Fondpassagiere. Den Assistenzsystemen haben die Ingenieure weiter die Sinne geschärft, wiewohl das autonome Fahren noch immer auf sich warten lässt, weil es die Gesetze nicht ermöglichen. Daher bleibt es zunächst beim automatischen Valet-Parken in dafür ausgerüsteten Tiefgaragen.
Verbessert ist auch der vorausschauende Unfallschutz: Erkennen die Sensoren einen drohenden Seitenaufprall, hebt das adaptive Fahrwerk das Auto binnen Sekundenbruchteilen um acht Zentimeter an. So wird die Crashenergie in den stabilen Unterboden geleitet statt in die Weichteile.
So viel Extras, Spielereien und Komfort lassen Autos oft schwerer werden und mehr Sprit verbrauchen. Nicht so bei der S-Klasse. Die hat noch mehr Alubleche als der Vorgänger, das Gewicht sinkt deshalb um knapp einen Zentner. Weil dazu der Luftwiderstand geringer ausfällt, stellt Chefingenieur Weissinger niedrigere Verbrauchswerte in Aussicht. Kenner rechnen mit etwa 6 Liter Diesel und 8 Liter Benzin auf 100 Kilometern in der sparsamsten Ausführung. Gelingen könnte dies auch, weil die Motoren mit zunächst sechs und acht Zylindern allesamt einen elektrischen Startergenerator bekommen.
Kabelloses Laden zunächst nicht möglich
Über lange Strecken fährt die S-Klasse künftig komplett emissionsfrei. Ein nachgereichter Plug-in-Hybrid soll bis zu 100 Kilometer aus dem Akku bestreiten. Wer weiter stromern will, muss länger warten: Ungefähr zum übernächsten Jahreswechsel kommt die S-Klassen-Alternative EQS – mit eigener Plattform und eigenständigem Design.
Ein paar Dinge sind bei der S-Klasse indes auf der Strecke geblieben. So kommt das kabellose, induktive Laden des Plug-in-Hybriden entgegen früherer Ankündigungen erst mal doch nicht.
Ausschließlich um den technischen Fortschritt geht es für Daimler bei der S-Klasse denn auch nicht. Das Dickschiff muss dringend benötigte Deckungsbeiträge für die Konzernbilanz liefern. Auch deshalb arbeiten die Ingenieure bereits eifrig an einer extralangen Maybach-Version mit Zwölfzylinder und an den AMG-Modellen.
Thomas Geiger ist freier Autor und wurde bei seiner Recherche von Mercedes unterstützt. Die Berichterstattung erfolgt davon unabhängig.
August 28, 2020 at 09:33AM
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Mercedes S-Klasse: Der Welt entrückt - DER SPIEGEL
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